Schreibwettbewerb: Lust & Frust des Schreibens

Jan Pospischil

Drei weiße Punkte

Ein Professor stellte sich vor einen rappelvollen Hörsaal. Das ganze Auditorium wartete nur auf seine Worte. Alle hatten Stift und Papier vor sich, um sich aufzuschreiben, wie die Prüfungsleistung dieses Moduls aussehen wird.
Der Professor schaute sich um, ließ die Stille einen Moment für sich wirken. Dann erhob er die Stimme.
„Sie alle sind hier, weil sie wissen wollen, was sie tun müssen, um dieses Modul zu bestehen.“
Gekicher und Gedruckse in einigen Reihen.
„Nun bin ich schon so lange an einer Universität, dass ich eines genau weiß. Ein Drittel von ihnen werde ich nie wiedersehen, vielleicht sogar die Hälfte. Sie werden für mich nur Namen in einer Tabelle sein. Und ich für sie nur eine weitere Prüfungsleistung für Credits.“
Wieder etwas betretenes und teilweise erheitertes Gemurmel in den Rängen.
Der Professor seufzte laut in sein Mikrofon.
„Nun, dann wollen wir diesen Umstand einfach mal akzeptieren. Und fortfahren.“
Er klickte auf eine Taste an seinem Laserpointer und die Präsentation auf der großen Leinwand über ihm sprang eine Folie weiter.
„Hier sind die Prüfungsmodalitäten.“
Das verwirrte Getuschel nahm nun die Lautstärke von Meeresrauschen an. Der Professor lächelte innerlich.
Auf der Folie stand folgendes:

1.Die Prüfungsleistung erfolgt schriftlich.
2.Der Umfang beträgt mindestens 100 Wörter.
3.Die Sprache der Prüfungsleistung ist deutsch.

Die Studierenden starrten auf die Zeilen vor ihren Augen und Verwirrung machte sich breit. Es dauerte nicht lange und ein junger Mann mit einem schwarzen T-Shirt, auf dem ein Wolfskopf prangte, meldete sich.
„Was wird das Thema dieser Hausarbeit sein?“
Manche rollten mit den Augen, andere jedoch schienen sich die selbe Frage gestellt zu haben und starrten den Professor weiterhin unverhohlen an.
Der Professor schaute sich in seinem Hörsaal um.
„Ach verzeihen sie. Das steht ja auf der nächsten Folie.“
Wieder klickte er auf dem kleinen Apparat in seiner Hand. Nur um etwas zum Vorschein zu bringen, was für noch mehr Furore sorgen würde.
Auf der riesigen Leinwand war nun anstatt einer weißen Fläche mit schwarzer Schrift, wie der Professor es zuvor gestaltet hatte, eine komplett schwarze Fläche zu sehen.
„Sie werden jetzt wohl denken, ich hätte sie auf gut Deutsch verarscht. Nun, das war nicht meine Intention. Sie finden das vorgegebene Thema hier auf dieser Folie.“
Er drückte in kurzen Abständen drei Mal auf seine Fernbedienung. Auf der großen schwarzen Fläche erscheinen nun drei weiße Punkte.

Zuerst herrschte Stille.
Der Professor fing innerlich an, laut zu lachen.
„Irgendwelche Fragen?“
Der Satz war süß wie Honig in seinem Mund, aber ätzend wie Säure in den Ohren der Studierenden im Hörsaal.
Manche diskutierten laut mit ihren Nachbarn, andere beschwerten sich einfach in den Raum herein. Wieder andere waren erstarrt und saßen einfach nur apathisch da.
Nicht so der junge Mann mit dem Wolfs-Shirt. Er schien gefasst zu sein.
„Also ist die Prüfungsleistung eine beliebige Hausarbeit?“
„Sie sollte zumindest gut sein“, lachte der Professor.
Mit Groll in seinen Augen packte der Student seine Tasche und verließ den Hörsaal.
„Nun, da die ersten schon aufgeben, würde ich sagen ich habe nicht allzu viel zu korrigieren“, sagte der Professor selbstgefällig.
„Machen wir mit der Organisation der Veranstaltung weiter.“

Die Tür des Auditoriums lag noch nicht richtig hinter ihm, da hatte er schon das Handy in der Hand und die Nummer gewählt. Es klingelte zweimal…dreimal.
Er ging durch den Flur zum Treppenhaus, hoch und durch die breite Eingangstür des Erdgeschosses.
Als es auf dem Hof das Siebte Mal klingelte, legte er auf und packte sein Handy in die Tasche.
Wahrscheinlich schläft sie und hat ihr Handy aus…
Er lief querfeldein über den Campus und eilte mit großen Schritten auf die Bushaltestelle zu, mit einem Tempo, das andere gerade mal beim Joggen zustande brachten.
Am Bus angekommen zückte er kurz seinen Ausweis, der gleichzeitig Mensakarte und Bibliothekszugang war. Ihn zu verlieren war keine Option, weshalb er sofort wieder in der Tasche verschwand.
Da er mitten in der Vorlesungszeit aus dem Saal geflohen war, genoss er nun einen leeren Bus und nutze die 20 Minuten Fahrt, um über die provokante Art des Professors nachzudenken.
Es gab kein Thema. Keine Einschränkung. Nicht einmal einen Umfang.
Niemand konnte ihn dafür belangen, wenn er einfach danach bewertete, ob ihm die Namen in seinem Kurs gefielen. Und es würde nichts bringen, ihn beim Dekanat anzuschwärzen. Er war ein absolutes Urgestein. Und er befand sich im Recht. Das Modul sagte lediglich aus, dass die Prüfungsleistung schriftlich zu erbringen sei. Während er noch seine Gedanken rumoren ließ und seine Finger in das Sitzpolster unter ihm krallte, kündigte die elektronische Ansage seine Haltestelle an.
Die zwanzig Minuten waren wie ein Wimpernschlag vergangen, ohne dass das Grübeln zu einem Ergebnis geführt hätte. So stieg er aus, den Rucksack über eine Schulter gehängt, und machte sich auf den Weg zu dem Mietshaus in dem er wohnte. Er zog den Schlüssel aus seiner Hosentasche und öffnete die Haustür, die Wohnungstür und schließlich auch seine Jacke.
Seine Freundin schlief selig im Bett, ab und zu erschütterte sie ein Husten. Er mochte es nicht, schlechte Nachrichten nach Hause zu bringen, aber so war das nun mal.
Er setzte seinen Rucksack ab, Teewasser auf und schnappte sich seinen Collegeblock. Während sie noch schlief, kritzelte er bereits skizzenhafte Outlines und Gliederungen, Inhaltsverläufe und Textblöcke. Er versuchte, in der absoluten Vagheit des Professors einen Hinweis zu finden, was er von ihnen verlangte. Zumindest war klar, dass er auf Provokation aus war. Eine Herausforderung. Ein Appell an kritisches und kreatives Denken. Egal wie er argumentieren würde, sie mussten mitspielen oder sie würden durchfallen.
Der junge Mann seufzte laut. Zu laut. Seine Freundin murrte und hob leicht den Kopf.
Als sie ihn erblickte, hellte sich ihr Gemüt augenblicklich wieder auf.
„Du bist ja schon wieder da!“
Er lächelte sie liebevoll an.
„Deine Gesellschaft ist doch sowieso besser als die von Professor Scharnbeck“, sagte er, als er sich auf die Bettkante setzte.
„Alter Schleimer!“, sagte sie und zog ihn für einen leidenschaftlichen Kuss an sich heran.
Kurz darauf musste sie niesen und sie beide lachten.
„Was hat Scharnbeck gesagt?“
„Er ist ein Idiot. Ihr sollt eine Hausarbeit schreiben.“
Seine Freundin rollte mit den Augen.
„Was für eine Überraschung. Und worüber?“
„Deswegen sagte ich, er ist ein Idiot. Er hat nichts vorgegeben. Keine Wortgrenze, keinen Inhalt, gar nichts.“
Das ohnehin schon blasse Gesicht der jungen Frau ließ immer mehr Farbe vermissen.
„Keine Sorge.“, sagte der bärtige Mann und umarmte seine Freundin innig, „Uns fällt schon was ein.“
Er griff sich seinen Notizblock.
„Vielleicht können wir ja was Richtung Philosophie machen, das kommt immer gut an.“
Er zog weiter Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Elementen die er sich notiert hatte.
„Nein, Philosophie ist zu viel Geschwafel.“
„Möglich.“
Beide dachten nach.
„Wenn wir wenigstens wüssten was er sich dabei gedacht hat. Ich wünschte, man könnte einfach Professoren rausschmeißen, wenn sie sowas machen!“, sagte sie.
Er hörte auf zu schreiben, hob den Kopf und schaute sie an.
„Du bist ein absolutes Genie.“, sagte er und küsste sie erneut.

Einen Monat später rauschte er in das Auditorium von Professor Scharnbeck. In seiner Hand hatte er einen Stapel Papier, eingebunden in einen Plastikumschlag.
Der Professor, der noch seine Worte vorbereitete, war sichtlich irritiert.
„Was genau wollen sie mit diesem Pack Druckerpapier?“
Der junge Mann knallte mit einem breiten Grinsen die Hausarbeit auf das Pult.
Scharnbeck warf einen Blick durch seine eckige Brille auf den Titel der Arbeit vor ihm:
„Ein wissenschaftliches Essay über das Exmatrikulieren von Professoren aufgrund von hinterlistiger Unprofessionalität an Universitäten.“
Er hielt inne.
„Ist das ihr Ernst?“, platzte er kurz darauf hervor.
Während Scharnbeck purpurrot wurde, schnappte sich der junge Mann ohne zu zögern das Mikrofon, testete, ob es eingeschaltet war, und sprach zu der versammelten Gruppe:
„Ich habe gerade eine Hausarbeit abgegeben. Ja, ihr haltet mich bestimmt für einen Streber, weil ich das jetzt schon am Anfang des Semesters tue. Aber diese Hausarbeit beschäftigt sich damit, dass auch Professoren für ihre Fehler geradestehen sollten.“
Er drehte sich zu dem mittlerweile förmlich kochenden alten Mann.
„Ich rate euch, auch was zu dem Thema zu schreiben. 100 Wörter sollten ja machbar sein.“
Manche lachten, andere meckerten, ihm war es egal.
„Verraten sie mir mal eines.“, knurrte der Professor, „Woher nehmen sie die Unverfrorenheit, mir das hier anzubieten?“
Der junge Mann lachte laut ins Mikrofon.
„Diese Arbeit hat meine Freundin geschrieben. Mit meiner Hilfe. Und damit haben wir die Prüfungsleistung erfolgreich abgegeben und erfüllen alle Kriterien. Wir haben genug Lebenszeit für sie verschwendet.“
Er ließ das Mikrofon fallen, ein lauter Schlag drang durch die Lautsprecherboxen und er verließ den Saal.
Und auf dem Rücken der Hausarbeit, die Scharnbeck frustriert wieder fallengelassen hatte, prangte, umrahmt von einem kleinen Herzen folgende Buchstaben:
N+J

Unerwartete Folgen eines unklaren Schreibauftrags

"Der Ausgangspunkt [der Kurzgeschichte] ist eine Prüfungsleistung, die Studenten in einem Modul erbringen sollen. Kein Umfang, kein Thema. Nur schriftlich und auf Deutsch soll sie sein. Das war die einzige Unterstützung, die die Studenten erhielten."

"Eine Kurzgeschichte zum Mitfühlen und Mitdenken."