Optische Wahrnehmung - Prägnanztendenz

 

 

Die "Flachdachpyramide" - mein Logo in der Kopfzeile - ist ein Demonstrationsbeispiel für die sogenannte Prägnanztendenz: Unser Wahrnehmungs- und Denkapparat ist stets bestrebt, aus den Sinneseindrücken eine Vorstellung von größtmöglicher Einfachheit und Regularität zu konstruieren. Die "Flachdachpyramide" ist nur zu erkennen, wenn sie sich dreht. Das tut sie nach jeweils fünf Sekunden fünf Sekunden lang. Wenn der Körper zur Ruhe kommt, scheint er sich in ein würfelförmiges Drahtgestell zu verwandeln. Er wird dann zum Necker-Würfel, eine wohlbekannte Kippfigur. Diese Wahrnehmung der "einfacheren Gestalt" ist zwingend, obwohl sich der dargestellte Körper nicht verändert. (Zur "Flachdachpyramide" bin ich durch einen Bastelbogen von Harald Gropengießer angeregt worden (Spektrum der Wissenschaft 12/1986, S. 4).)

 

Ein einfaches Stereogramm ("Starreogramm") der „Flachdachpyramide“: Nehmen Sie den Zeigefinger zu Hilfe und betrachten Sie über den Zeigefinger hinweg das linke Bild mit dem rechten Auge.  Merken Sie sich den Punkt, auf den Ihr Finger zeigt. Nun halten Sie die Position des Zeigefingers unverändert und gucken Sie mit dem linken Auge. Der Zeigefinger springt und sollte nun im rechten Bild auf einen entsprechenden Punkt zeigen. Falls der Finger zu weit „springt“, bewegen Sie den Finger in Richtung Bild und wiederholen Sie das Ganze. Wenn der Sprung zu klein ist, nehmen Sie den Finger zurück in Richtung Augen. Wenn die Sprungweite passt, schauen Sie auf die Spitze Ihres Zeigefingers. Im Hintergrund müsste nun das dreidimensionale Bild der „Flachdachpyramide“ entstehen. Außerdem gibt es ein linkes und ein rechtes Nebenbild.

Wer mehr über die Mechanismen der räumlichen Wahrnehmung wissen will, dem empfehle ich das Buch „Wahrnehmungspsychologie“ von E. Bruce Goldstein (Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg, Berlin, Oxford 1997).

Die Upside Downs von "Little Lady Lovekins and Old Man Muffaroo" hat Gustave Verbeek kurz nach 1900 gezeichnet. Die Abenteuer sind in jeweils sechs Bildern dargestellt. Dreht man einen solchen Comic auf den Kopf, erscheinen die folgenden sechs Szenen der Geschichte. Hier ist das erste Bild eines solchen Comics zu sehen - Anfang und Ende des Abenteuers.

Zwei Szenen kopfüber-kopfunter in einem Bild unterzubringen, geht nicht ohne groteske Verzerrung der Figuren - und gerade diese macht ja den Reiz des Comics aus. Da unser Wahrnehmungsapparat unablässig auf Sinnsuche ist, baut er aus nur wenigen Signalen das mentale Bild einer stimmigen Szene zusammen. Das ist die Wirkung der uns angeborenen Lehrmeister Strukturerwartung und Prägnanztendenz.

 

Upside...

 

...Down

 

 

Die Rauten der oberen Reihen scheinen dunkler und gleichmäßiger eingefärbt zu sein als die darunter. Aber: Alle Rauten dieses Bildes sind identisch gefärbt und schattiert. Ursächlich ist der Effekt der Kontrastbetonung. Die Erklärung dazu kommt mit dem folgenden Bild.

Watanabes rautenförmige Variante der Craik-O'Brien-Täuschung habe ich im Buch "Macht Schwarz schlank?" von Jacques Ninio (Gustav Kiepenheuer, Leipzig 2000) gefunden.

 

Die Kontrastbetonung ist ein Mechanismus der Prägnanztendenz. Er lässt sich aus der neuronalen Verschaltung von Sinneszellen erklären (E. Bruce Goldstein: Wahrnehmungspsychologie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1997): Der Effekt ist Folge der Hemmung von Lichtrezeptoren durch ihre Nachbarzellen. Die Hemmung ist umso größer, je stärker die Nachbarzellen erregt werden. Der schmale Streifen erscheint schattiert, obwohl er gleichmäßig mittelgrau eingefärbt ist. Im oberen Teil des Bildes hemmen die durch den hellen Hintergrund gereizten Rezeptoren die Rezeptoren der mittelgrauen Fläche und lassen sie dunkler erscheinen. Diese Hemmung lässt nach unten nach. Der schmale Streifen scheint sich entsprechend aufzuhellen. (24.11.2003)

 

 

 

Ebenfalls auf dem Effekt der Kontrastbetonung beruhen die nicht vorhandenen aber dennoch wahrgenommenen grauen Punkte an den Kreuzungen des Hermann-Gitters: Die stärkere Hemmung der Rezeptoren an den Kreuzungen der hellen Steifen verursacht den dunkleren Wahrnehmungseindruck.

Das Prinzip der Kontrastbetonung findet man auch auf höheren kognitiven Ebenen. Dort ist es unter anderem verantwortlich für unsere Neigung zu Qualitätsabstufungen und Unterschätzung vermeintlicher Nebensachen. Das kann katastrophale Konsequenzen haben. Mein Buch Grundlagen des Qualitäts- und Risikomanagements bringt Beispiele dafür.


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© Timm Grams, 7. Juli 2007 (Urversion: 5.12.2001)